„Liesel, es ist Zeit für dich zu gehen.“

Beim Friedensweg 2022 gedenken wir an die vielen Opfer vom 04.12.2022, indem wir eine
Geschichte der jüdischen Familie Schwab aus Heilbronn hören. Die wahre Geschichte steht Ihnen
als Audio zum Anhören und als Text zum Nachlesen zur Verfügung.


Auf den Spuren der Jüdin Liesel Rosenthal, Heilbronnerin *1915:

Ich heiße Alice Schwab, meist werde ich aber Liesel genannt. Ich wurde am 10. Mai 1915 in
Heilbronn am Neckar in Süddeutschland geboren. Mein Vater war Ludwig Rosenthal,

meine Mutter war Hermine, geborene Rothschild, aus Cannstatt bei Stuttgart. In unserer Stadt
lebten viele Rosenthals; mein Vater war Weinhändler, wie auch sein ältester Bruder und der jüngste Bruder seines Vaters. Es gab in der Stadt also drei Weinhandlungen Rosenthal. Mein Vater kaufte Wein von Winzern zumeist aus Württemberg und Baden. Die Weine wurden dann in unseren Kellern in der Götzenturmstraße eingelagert, ehe sie an Restaurants, Hotels und Gaststätten in der ganzen Region verkauft wurden. 1932 verließ ich die Schule und wollte Künstlerin werden. In Stuttgart gab es eine Kunstakademie, und ich hatte eine Cousine, die dort studiert hatte. Eigentlich wollte ich mich dort einschreiben, aber zuhause waren die Dinge schwierig, weil das Geschäft meines Vaters aufgrund des Boykotts der Nazis nicht sonderlich gut lief. Daher wurde beschlossen, dass ich nicht Kunst studieren, sondern Buchhändlerin werden sollte. Ich wurde im Geschäft von Dr. Determann [in Heilbronn] angestellt, der mit antiquarischen und neuen Büchern handelte, und lernte dort sehr viel.“

Die Situation für jüdische Familien in Heilbronn wird zusehends schwieriger. Es kommt zu Boykotts
gegenüber jüdischen Geschäften, sowie willkürlichen Festnahmen von Juden und weiteren
Repressalien. Zudem werden zahlreiche Berufsverbote ausgehändigt.

Wie geht es dir, wenn deine Heimat dich plötzlich nicht mehr akzeptiert?

Liesel hat jedoch Glück. Ihr gelingt es bereits 1937 nach England zu fliehen. Zum Zeitpunkt ihrer
Flucht ist sie 22 Jahre alt. In ihrer Heimat spitzte sich die Lage aber weiterhin zu. Liesels Mutter Hermine berichtet in ihren
Briefen immer wieder vom Weggang von Freunden, Bekannten und Verwandten aus Heilbronn.
In einem Brief heißt es zum Beispiel:

„Sonst weiß ich nicht viel zu berichten, ich gehe ganz selten aus dem Hause. Dr. Gumbel hat seine Villa billig verkauft, zieht nach Stuttgart. Die Scheuers ziehen in den nächsten Wochen nach Erez [Israel], letzte Woche war große Verabschiedung, Eisen-Dreifus zieht nach Stuttgart & so viele gehen weg. […] Tante Sofie Kahn ist schon weg zu ihren Kindern nach Amerika, zuerst geht sie für 14 Tage nach Königstein im Taunus & dann anschließend weg.“

Wie würdest du dich fühlen, wenn all deine Freunde und zahlreiche Familienangehörige ihre
Heimat und damit auch dich verlassen würden?

Für Liesels kleinen Bruder ist es in Nazi-Deutschland kaum noch möglich die Schule abzuschließen und völlig aussichtslos, eine Ausbildung machen zu können. Er muss schnellstmöglich aus Deutschland herausgeholt werden. Während Liesel sich noch in England einlebt, bemüht sie sich auch ihrem Bruder zu helfen.

„Zur selben Zeit gelang es mir, meinen jüngeren Bruder aus Deutschland herauszuholen. Anfangs konnte er dank meines Zutuns bei einer sehr netten Familie in Dulwich unterkommen, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes bemutterte, er war ja auch erst dreizehn Jahre alt. Dann sorgte ich dafür, dass er zur Schule ging, in eine kleine Privatschule in Brighton. Das wurde von der Flüchtlingshilfe im Woburn House arrangiert, aber ich konnte finanziell auch eine Kleinigkeit beitragen.“

Könntest du dir vorstellen mit 13 Jahren deine Heimat allein zu verlassen?

Die Lage jüdischer Familien in Heilbronn wird immer bedrohlicher. Ein Brief des Bruders Helmut, der
nun 14 Jahre alt ist, im Internat in England lebt und der anfängt, sich Jack zu nennen, spiegelt das
Ende November wider:

„Liebe Liesel! Deine Karte erhielt u. schrieb ich sofort in your flat. Liebe Liesel, weißt Du, dass die Nazi alle Briefe, die die Juden schreiben, abfangen? Die Eltern schrieben mir von 2 Briefen, die ich bis jetzt noch nicht erhalten. Nur diese Ansichtskarte habe ich erhalten. Die liberale Synagoge in Heilbronn ist zerstört, die orthodoxe besteht noch. […] Gruss Jack.“

Kannst du dir vorstellen, keinen Kontakt mehr zu deiner Familie zu haben, obwohl du dich danach sehnst?

Nicht nur die Synagoge an der Allee ist zerstört worden, sondern es werden auch viele Männer der jüdischen Gemeinde in Konzentrationslager gebracht – nach Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Dort werden sie drangsaliert und durch körperliche und psychische Schikanen gedemütigt. Die meisten Inhaftierten kommen erst frei, nachdem sie sich zur Auswanderung bereiterklärt haben. Liesels Freundin Lilla Eisig wendet sich am 30. November 1938 hilfesuchend an Liesl, da auch ihr Mann Hermann Eisig im Konzentrationslager ist. Sie schreibt:

„Liebe Liesel! Von Hermann hatte ich gestern endlich einen kurzen Kartengruß, Du kannst Dir denken, wie sehnlich ich ihn erwartet hatte, nachdem die anderen schon seit einigen Tagen Nachricht hatten. Ich bin nun gerade im Begriff, an das Woburnhouse zu schreiben, denn man hat uns gesagt, vielleicht bekämen die Männer, wenn sie zurückkommen,
dadurch so lange Aufenthaltsgenehmigung in England, bis sie nach ihrer Nummer nach Amerika einwandern können. Hast Du davon schon etwas gehört, und meinst Du, dass es Erfolg hat? Man versucht halt alles.“

Auch Alfred, der Ehemann von Liesels Kusine und Freundin Minni Stern ist im Konzentrationslager und Minni schreibt wenige Tage später aus Bad Nauheim nach London zu Liesel, um von ihr Unterstützung bei der Beschaffung einer Aufenthaltsgenehmigung in England zu bekommen:

„Ich wollte Dich nicht bemühen, aber nun liebe Liesel muß ich, denn ich weiß mir keinen Rat mehr. Die Angelegenheit in Alfreds Fall ist äußerst dringend – näher erklären kann ich hier nicht, hoffentlich verstehst Du mich richtig. Nun frage ich Dich also, kannst Du mir von Bekannten, Freunden oder sonstwem eine Garantie beschaffen (es ist ja mehr oder weniger Formsache) & zwar raschest. Es eilt sehr. Ich setze in Dich große Hoffnung, Du hast doch sicher viele Bekannte dort.“

Wenige Tage später kommt wieder ein Brief von Minni Stern an, da Alfred noch immer im KZ Dachau inhaftiert ist:

„Bitte liebe Liesel, vergiß mich nicht & ermüde auch nicht, wenn es nicht gleich klappt. Ich setze soviel Hoffnung auf Dich. Wenn ich nur für Alfred eine Garantie bekomme, mehr will ich gar nicht, das andere wird sich finden. Also ich denke, Du hast mich richtig verstanden, ich brauche nur Garantie für einen Transit-Aufenthalt. Wir wollen ja alle nach Amerika. Nun sind es schon über 4 Wochen, daß Alfred dort ist. Am 8. Dezember, vorgestern, hatte ich eine Karte von ihm, ganz kurz natürlich. Liebe Liesel, am 8. hatten wir Geburtstag, Alfred und ich sind ja beide an einem Tag geboren – ein schöner Geburtstag, nicht wahr? Ich weiß selbst nicht, wo ich die Kraft hernehme, daß ich es solange schon aushalte. – Oft denke ich, es geht nicht mehr & dann geht es doch wieder, weil ich muß. – Ach Liesel, was ist das Leben schwer – ich habe es nie leichtgenommen, aber nun ist es kaum noch zu tragen. Bitte, bitte liebe Liesel, tue was Du kannst, es ist so bitter notwendig.“

Zu Hause in Heilbronn bemühen sich Liesels Eltern Ludwig und Hermine Rosenthal ebenfalls um ihre Auswanderung, denn sie leben in Heilbronn mittlerweile unter immer schwieriger werdenden Bedingungen. So können sie ihre Wohnung in der Mozartstraße 10 nicht mehr halten, da die Kunden der Weinhandlung wegen des Boykotts wegbleiben. Sie suchen ein Land, das noch Flüchtlinge aufnimmt und das eine Perspektive bieten kann – England, Uruguay, Südafrika oder Australien? Liesels Vater Ludwig schickt einen Brief aus dem deutlich wird, wie viel Verantwortung Liesel für ihre Familie trägt:

„Liebe Liesel! In erster Linie erkundige Dich beim uruguayischen Konsul, ob es für uns eine Möglichkeit gibt, von England nach Uruguay zu kommen; forciere in 2ter Linie für uns Australien, ich fürchte, daß dieses Projekt lang sich hinzieht; irgendeine greifbare und rasche Lösung ist aber dringend nötig. Du brauchst uns nicht zu telegraphieren, spare Dein Geld. Gebe umgehend wegen Uruguay Bescheid, da die liebe Mutter dieserhalb eventuell nächste Woche nach Berlin fahren muß. Herzliche Grüße und Kuss für Dich und Heller. Vater“

Diese Zeilen zeigen, dass trotz größter Bemühungen der gesamten Familie alle ursprünglichen Fluchtpläne wie Uruguay, Australien usw. nacheinander zerplatzt waren. Anfang April 1939 gelingt es Liesel endlich, ihren Eltern die Einreise nach Großbritannien zu ermöglichen. Sie erinnert sich später:

„Mir fiel schon auf, dass meine Eltern am Telefon nicht mehr allzu viel sagen konnten und ich erfuhr, dass mehr und mehr Menschen aus Deutschland weggegangen waren. […] Ich fing an, mich um meine Eltern zu sorgen. […] Ich hatte einen Bekannten, dessen Vater Bankdirektor war; er lieh mir die zweihundert Pfund, die ich als Geldgarantie für meine Eltern brauchte, da die Behörden nur dann Einreisegenehmigungen ausstellten, wenn man solche Bürgschaften nachweisen konnte. So erhielt ich die Erlaubnis, dass meine Eltern zu mir kommen durften.“

Die Heimat ist unsicher, als Jude zu überleben ist fast unmöglich. Daher ist eine Flucht die einzige Möglichkeit am Leben zu bleiben.

Für Liesel ist es nicht leicht, sich ein neues Leben in England aufzubauen. Ihre erste Station ist Birmingham, wo sie eine Stelle als Hausmädchen bei der Quäker-Familie Dobbs hat. Sie hilft dort im Haushalt und bei den Kindern. Nach drei Monaten kündigt sie diese Stelle und zieht nach London. Ihr Traum, in ihrem erlernten Beruf als Buchhändlerin wieder zu arbeiten, stellt sich in der Realisierung jedoch als aussichtslos heraus. Nicht nur, weil sie zunächst nicht gut genug Englisch kann, sondern es ist in diesem Bereich für Nicht-Engländer nahezu unmöglich, hineinzukommen. Aber: Sie wird zu einem Vorstellungsgespräch als Verkäuferin bei Marks & Spencer eingeladen und bekommt die Stelle als Ladenmädchen bei den Strumpfwaren. Zudem hilft sie auch ihrer Familie aus Deutschland heraus zu kommen. Nach der geglückten Flucht ihrer Eltern, bemüht sich Liesel, auch anderen zur Flucht aus Nazi- Deutschland zu verhelfen. Viele ihrer Verwandten, Bekannten und Freunde schafften die Flucht aber nicht und wurden von den Nationalsozialisten brutal ermordet. In Liesels Erinnerungen heißt es dazu:

„Ich hatte einen Cousin [nämlich Alfred Stern],
der 1939 kurz vor Kriegsausbruch nach England herüberkam.
Seine Frau Minni war noch immer in Deutschland. Als sie zusammen mit ihrem Vater auf dem Weg zum Zug war, der sie zu einem Schiff nach Amerika bringen sollte, ließen sie ihren Vater gehen, aber Minni nahmen sie mit. Keiner hat jemals wieder etwas von ihr gehört. Mein Onkel Max wurde in einem kleinen Lager in Württemberg umgebracht; eine meiner Tanten sprang aus einem Zug nach Bergen-Belsen in den Tod, vielleicht sollte sie in ein anderes Lager gebracht werden. Meine Cousine Eugenie, die eigentlich nach England kommen sollte, bekam Heimweh und konnte den Gedanken, ihre Mutter allein zu lassen, nicht ertragen. Sie verschwand einfach, und niemand hörte jemals wieder etwas von ihr. Auch ihre Mutter verschwand einfach vom Erdboden. Ständig erschwand irgendjemand. Die Schwester und der Schwager meiner Mutter gingen von Stuttgart nach Holland. Sie wurden dort verhaftet und in ein großes Lager in Westerbork gebracht, wohin alle Juden aus ganz Holland kamen. Von Westerbork aus ging es dann weiter nach Bergen-Belsen. Zu dieser Zeit gab es eine Absprache, nach der in Palästina lebende deutsche Bürger gegen Juden ausgetauscht werden konnten. Das kostete eine Menge Geld – aber die Nazis machten nichts umsonst. Meine Familie in der Schweiz und andere Verwandte kratzten das benötigte Geld zusammen, und der Austausch wurde arrangiert. Meine Tante und mein Onkel waren auf dem Weg nach Palästina, im Austausch gegen zwei Deutsche,
die im Gegenzug nach Deutschland zurückkehrten. Leider erkrankte mein Onkel während der Reise und lag im Sterben; seine Frau wollte ihn nicht allein zurücklassen. Schließlich starb er, und sie wurde wieder in ein Konzentrationslager gebracht. Damals waren die Russen schon weit vorgerückt und befreiten sie – aber später verstarb auch sie.“

Nur wenige hatten so viel Glück wie Liesel und ihre Familie. Die meisten deutschen Juden wurden in Konzentrationslager gebracht oder auf anderen Wegen ermordet.


Wir danken dem Stadtarchiv für die wunderbare Zusammenarbeit
und Bereitstellung der Materialien.

Die Tonaufnahmen wurden eingesprochen von
Stefanie Kress, Jennifer Pryk & Jasmin Piontek.

Für die Zusammenfassung: Jennifer Pryk & Lioba Diepgen.

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